Vorgeschichte

Zwei Männer bezwingen die Not

Es war eine Zeit des Umbruchs als Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, was wir heute die erste industrielle Revolution nennen: der Einzug von Dampfmaschinen und Eisenbahn, von neuer Technik und Massenproduktion.

Plötzlich mussten Umstellungen riesigen Ausmaßes verkraftet werden. Teuerung, Hunger und Armut herrschten im Land. Viele Bauern hatten nicht einmal Geld, um Saatgut zu kaufen, geschweige denn Maschinen. Viele Handwerker blieben auf der Strecke, waren allein der Konkurrenz nicht gewachsen. Kredit für kleine Leute gab es nur bei skrupellosen Wucherern. Fünf Millionen Deutsche wanderten damals nach Amerika aus.

Die schlimme Lage rief zwei geniale Organisatoren auf den Plan, die die rettenden Ideen und die nötige Tatkraft besaßen: den Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 - 1888) aus dem Westerwald und den Richter und Reichstagsabgeordneten Hermann Schulze-Delitzsch (1808 - 1883) aus Sachsen.

Sie entwickelten - Raiffeisen im ländlichen und Schulze-Delitzsch im städtischen Raum - das Genossenschaftssystem zur erfolgreich funktionierenden Wirtschaftsdemokratie. Sie erkannten früh, dass Wohltätigkeit allein nur abhängig macht und setzten "helfen statt schenken" konsequent auf das Prinzip der Hilfe durch Selbsthilfe. Eine Welle von Genossenschaftsgründungen lief damals über unser Land, ein neues Kapitel Wirtschaftsgeschichte war aufgeschlagen.

Genossenschaften heute

Die Genossenschaftsidee unserer Gründer hat sich über alle Kontinenten ausgebreitet. Mehr als 600 Millionen Menschen sind weltweit genossenschaftlich organisiert. "Deutschland kann stolz darauf sein, in diesem Punkt das leuchtende Vorbild aller anderen Kulturländer geworden zu sein.", schreibt der Nationalökonom Gustav Schmoller. Indiens großer Führer Pandit Nehru nannte unser Genossenschaftssystem gar "den besten Weltexport der Deutschen".

Ruhm und Anerkennung erreichen Raiffeisen und Schulze-Delitzsch lange über den Tod hinaus; doch daran dachten sie zu Lebzeiten nicht. Was bewegte diese mutigen Wohltäter?

Friedrich Wilhelm Raiffeisen

Veranlasst durch die Not der armen Bevölkerung gründete Raiffeisen als junger Bürgermeister im Hungerwinter 1846/47 ein Weyerbusch/Westerwald den "Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten". Mit Hilfe privater Spenden ließ er Mehl kaufen. In einem selbsterbauten Backhaus wurde Brot gebacken, das auf Vorschuss an die Bedürftigen verteilt wurde. Der Brotverein sowie der 1849 gegründete Flammersfelder Hilfsverein und der Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein von 1854 waren vorgenossenschaftliche Zusammenschlüsse auf karitativer Grundlage.

Nachdem Raiffeisen erkannte, dass auf Dauer eine erfolgreiche Arbeit nur durch gemeinschaftliche Selbsthilfe wirksam sein kann, gründete er 1864 den Wohltätigkeitsverein in den Heddesdorfer Dahrlehenskassen-Verein um. Das war die erste ländliche Genossenschaft.

Hermann Schulze-Delitzsch

Hermann Schulze-Delitzsch war Jurist und Partrimonialrichter in Delitzsch bei Leipzig. Er ist in die Geschichte eingegangen als Begründer der gewerblichen Genossenschaften und maßgeblicher Gestalter des Genossenschaftsrechts.

Angeregt durch Beispiele in Großbritannien und Frankreich, wirkte Schulze 1849 bei der Gründung der ersten Rohstoff-Assoziation für Tischler in Delitzsch aktiv mit. Damit war der Grundstein für die gewerbliche Genossenschaftsorganisation gelegt, die sich alsbald mit ihren Handwerker-Genossenschaften und Volksbanken in Deutschland ausbreitete. Das heute noch gültige Genossenschaftsgesetz von 1889 basiert auf seinen Gedanken und seiner Vorarbeit als Reichstagsabgeordneter.

Heute unterscheiden sich die Produkte der Genossenschaftsbanken in nahezu nichts von denen anderer Banken. Doch den sozialen Zweck des Geldes, die Idee der Hilfe durch Selbsthilfe, haben die genossenschaftlichen Banken in die Gegenwart gerettet. Die Idee unserer Gründer wird in der kalten, globalisierten Medienwelt notwendiger sein denn je. Ein Blick hinter die Kulissen lohnt sich also.